Donnerstag, 5. April 2012

1.6 - Wiedergeburt


1.6 - Wiedergeburt

WAS?! WIE?! WARUM?! Ich öffnete die Augen. Meine Ohren korrigierten die Erwartungen meiner Gehirnwindungen. Nichts. Kein Abschied mit einem Knall. Kein Tod durch alkoholisierten Nihilismus. Keine ketzerische Beerdigung. Es war beim Klicken des Abzuges geblieben. Mein innerer Schweinehund sagte mir grinsend, dass meine biologische Uhr immer noch ticken würde. Ich betätigte den Abzug erneut. Wieder und wieder. Keine Kugel. Kein Tod. Keine Erlösung. Ich konnte es nicht fassen. Mein Herz pochte noch lauter, als vor ein paar Stunden auf dem Tötungstrip, den das Prozium-Z auslöste. Der blanke Schock stand mir im Gesicht geschrieben. Ein letzter und erster menschenverachtender Witz Gottes. Eine letzte und erste spöttische Bemerkung durch das Universum. Ich spürte ihr hämisches Lachen durch meinen Kopf hallen. Wie sie sich kugelten und sich gegenseitig halten mussten, um vor Lachen nicht hinzufallen.

Das Magazin war leer. Ich fühlte mich dem Hirntod nahe. Mein Geist schien auf der Grenze von Leben und Tod zu balancieren. Im Slalom durch sie durch zu schlendern. Ich war in Panik. Weil ich sterben werde oder weil ich nicht sterben werde? Wegen dem Alkohol konnte ich das Geschehene noch nicht wirklich verarbeiten. Wo ist die ersehnte Kugel?! Ich dachte an den letzten Schuss, für den ich das Magazin verwendet hatte. Ein dekadenter Schuss. Ein verschwendeter Schuss. Ein Schuss, um sicher zu gehen, dass der letzte der KGB-Agent tot sein würde, nachdem ich ihn mit Kugeln nur so überschüttet hatte. Ein überflüssiger Schuss. Mehr ein Akt der kriegerischen Besessenheit als eine notwendig rationale Handlung. Eine Sicherheit. Eine doppelte Sicherheit. Eine Sicherheit von Tod und Leben. Eine Handlung die den Tod dieses Mannes sicher stellen sollte, aber auch eine Handlung, die mein Leben garantieren soll? Ich spürte nicht, wie mir die Waffe aus der Hand glitt. Ich hörte lediglich den dumpfen Aufschlag auf dem nackten Boden des Beichtstuhlraumes und das schrille, amüsierte Johlen der toten Wände über mein Versagen zu leben und mein Versagen zu sterben. Ein gescheiterter Selbstmordversuch eines betrunkenen Mannes in einem heiligen Hause Gottes. Wie grotesk. Mein Gesicht formte ein lethargisches Lächeln, als ich diese perfekt getimte Willkür des Schicksals erkannte. Dann verfinsterte sich mein Gesicht erneut. Mein Sturmgewehr lag noch im Wagen. Die Feedom-7 meines Bruders randvoll gepackt mit Munition. Unter den Sitzen der Rückbank. Soll ich sie holen? Oder soll ich erleichtert sein? „Nein.“ Ich muss sie holen.

Geistesabwesend, als hätte meine Seele bereits meinen Körper verlassen, humpelte ich zur Tür. Ich spürte keinen physischen Schmerz mehr. Ist es das Adrenalin, das durch den versuchten Selbstmordversuch ausgeströmt wurde oder der Alkohol? Oder die Entschlossenheit? Wahrscheinlich alle drei Dinge zusammen. Die Klinke war so kalt wie der Lauf der Beretta. Mein Herzschlag verlangsamte sich nun rapide. Er war langsamer als im Normalfall, bis mein Herz für eine Frequenzeinheit aufhörte zu schlagen. Mein Vater erschien vor meinem geistigen Auge. Er sprach zu mir. Sein siebensekündiges Testament hallte durch meine Gedankengänge. Die Worte, die er mit letzter Kraft aussprach, bevor er starb. „Geh nach Hyperborea!“ Dann Dunkelheit. Ich fiel in Ohnmacht, bevor ich am Altar angelangt war, auf dem sich sein Körper befand.

Ich wachte zwischen Tür und Angel auf und lag in meinem Erbrochenen. Mal wieder. Ich stank abstoßend nach meinem Mageninhalt und Schweiß und zitterte am ganzen Körper. Ich brauchte dringend eine Dusche und erholsamen Schlaf. Richtigen Schlaf in einem Bett, kein bewusstloses Zusammenkauern in Embryonalstellung am Boden in meiner eigenen Kotze. Der schlimmste Rausch, den ich je überlebt hatte. Oder lebe ich gar nicht mehr? Ich fühlte mich so, als wäre mir nach einem kurzzeitigen Tod wieder Leben eingeflößt worden. Jedoch kein schönes und auf die schlimmste Weise, die man sich vorstellen konnte. Ein Bild des Elends. Ich war ein Mann, der ganz unten angelangt war. In einem Hause Gottes. Der heiligste Ort für meinen Vater. Mein Vater. Ich dachte erneut an seine letzten Worte: „Geh nach Hyperborea!!“ Ich versuchte mich an die letzten Stunden zu erinnern. Wie lang war ich weggetreten? Was hatte ich getan, bevor ich bewusstlos wurde? Ich sah eine bronzene Münze neben mir liegen. War die schon vorher hier? Ich hob sie auf und steckte sie in eine Tasche. 

Dann sah ich die Beretta am Boden im Raum, der den Beichtstuhl beinhaltete. Wollte ich mich etwa umbringen? Oder hatte ich dies erst vor und mich dann umentschieden? Ich erhob mich vom Boden und hatte erst Probleme das Gleichgewicht zu finden. Dann ging ich zur Waffe und hob sie auf. Ich richtete den Lauf an die Wand und drückte ab. Das Magazin war leer. Wollte ich zum Wagen und mich dann mit der Freedom erschießen? War ich so betrunken, dass ich nicht mal mehr in der Lage war, mich umzubringen und davor einfach in Ohnmacht viel? Plötzlich fühlte ich unendliche Scham in mir hochkommen. Was ist nur los mit mir? Das Logo der Flasche Jolly Roger schoss mir in den Kopf. Das Bild des willenlosen Kaninchens, das ohnmächtig und betäubt war und dennoch verwegen grinste. Es umkreiste meinen Körper. Nie wieder! Wie konnte ich nur so abstürzen? Wie konnte ich den letzten Willen meines Vaters, einfach so ignorieren und aufgeben? Man verwehrte den letzten Wunsch eines alten Mannes nicht einfach so, besonders wenn dieser Mann die Person war, die einen aufzog, und die einem alles beigebracht hat, was man über das Leben wusste. Ich bekam einen kleinen Anfall von Schüttelfrost. Die Kälte an diesem Ort ist unbeschreiblich. Das Kreuz meines Bruders lag ebenfalls am Boden. Ich stopfte es in die linke Hosentasche. Die Beretta in die rechte Seitentasche meines Pullovers.

Ich ging raus zum Altar und zur Leiche meines Vaters. Er lag unverändert da. Immer noch reglos. Immer noch tot. Er konnte nichts mehr für mich tun und ich konnte nichts mehr für ihn tun. Nein, nicht ganz. Ich kann sein Testament erfüllen. Ich kann seinen Traum wahr werden lassen, indem ich ihn für mich verwirklichte. Die Bronzemünze erschien in meinen Gedanken. Ich starrte meinen Vater an. Er würde mir aus dem Reich der Toten antworten, wenn ich das Schicksal vermitteln lassen würde. Kopf: Gehen; Zahl: Nicht gehen. Die Münze gab beim Schnipsen und beim Aufprall ein leichtes Klirren von sich. Kopf. „Geh nach Hyperborea!!!“ Ja, Vater. Seinen Tod musste ich akzeptieren und nach vorne schauen. Meinen darf ich nicht akzeptieren. Höchstwahrscheinlich wäre ich auch so gegangen, ich wollte nur eine finale Bestätigung des Schicksals. Ich dachte an die letzten erbärmlichen Stunden meines Lebens. Abfall in die Resignation wie Abfall in einen stinkenden Mülleimer. Ich schämte mich für meinen Absturz. „Tut mir Leid.“, murmelte ich während ich einen letzten Blick auf ihn warf, bevor ich mich umdrehte, um zu gehen. Genug Zeit mit sentimentalen Gefühlsausbrüchen verschwendet. Ich sollte nie wieder einen Schluck trinken. Ich musste endlich das tun, was wir schon seit Jahren erreichen wollten. Sie sollen alle nicht umsonst gestorben sein. Einer von ihnen würde es schaffen. Wenn es einer schaffen würde, ist die ganze Mühe nicht vollständig wertlos gewesen.

Ich verließ die Kirche und sah den KGB-Wagen. Hat mich der KGB inzwischen geortet und ist mir auf den Fersen? Unmöglich. Zeitverschwendung sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich könnte das Aufspüren von mir durch ihn sowieso nicht verhindern. Keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Ich musste schnellstmöglichst los. Die Wagentür war noch offen. Ein Glück. Der Kopf des Agenten begrüßte mich erwartungsgemäß mit Schweigen und einer vollkommenen Leere in seinen Augen. Erst zu diesem Zeitpunkt bemerkte ich, was für ein Gestank der Kopf im Wagen verbreitete. Der Alkohol schien auch meine Geruchsfähigkeit blockiert haben. Das Fahrzeug stank nach Verderben und Verwesung. Irgendwie passte dies zu einem Transporter des persönlichen Killerkommandos der Dessens, jedoch war es für mich kaum auszuhalten. Ich hielt den Kopf an das Erkennungsfeld des internen Computersystems, um den Wagen zu starten. Danach verstaute ich den Kopf im Kofferraum. Soweit wie möglich von mir entfernt und so nah wie nötig an mir dran. Danach öffnete ich sämtliche Fenster im Wagen mittels Bordcomputer. Den Schutz des Panzerglases werde ich sowieso nicht benötigen.

Ich war wieder einigermaßen nüchtern. Jedenfalls wieder klar bei Verstand. Mit dem klaren Verstand kam aber auch der physische Schmerz zurück. Zwei Dinge die Hand in Hand gehen. Meine Verletzungen mussten von einem richtigen Arzt behandelt werden. Ich darf keine Zeit mehr verlieren.
Während den letzten Kilometern machten mir meine vegetativen Bedürfnisse zusätzlich zu schaffen. Die Müdigkeit meldete sich erneut. Langsam, aber stetig. Ich war schon seit Stunden unterwegs, ohne auch nur irgendeiner Form von Leben zu begegnen. Die Straße schien endlos zu sein. Sie schien bis zum Firmament zu reichen. Ein Himmelfahrtskommando Richtung Horizont. Ich stellte mir vor, wie ich an der Grenze ankommen würde, nur um von der bitteren Wahrheit, nämlich dass es kein Utopia gab, erschlagen zu werden, und sogar noch froh darüber zu sein, denn selbst dieser Ausgang der Geschichte wäre besser, als dieser Roadtrip ins Nichts, den ich gegenwärtig ertragen musste, auf einer fast zerstörten Straße, die dringend eine Restaurierung nötig hatte. Ich fühlte mich so, als würde ich durch ein endloses Loch Fallen, in der Hoffnung, endlich mit meinem Körper auf dem nassen Asphalt aufzuschlagen, oder so, als würde ich durch einem Tunnel wandeln, der in Dunkelheit gehüllt war, in der Hoffnung ein Licht in der Ferne zu sehen, selbst wenn dies der Zug sein sollte, der mich überrollen würde. Ich hielt kurz für fünf Minuten, um zu essen und zu trinken. Vor allem aber, weil ich das Geräusch des Motors nicht mehr hören konnte. Ich konnte keinen Bissen runterkriegen, obwohl ich unbeschreiblichen Hunger hatte. Nur eine von unzähligen unerwünschten Nebenwirkungen des Alkohols. Wahrscheinlich hätte ich in dieser Situation auch nüchtern keinen Bissen herunter gekriegt. Ich versuchte auch auf der Rückbank zu schlafen. Nur für ein paar Stunden. Der Gestank verwehrte mir jedoch diesen Wunsch. Nach einer Viertelstunde und mehreren gescheiterten Anläufen, in das Reich der Träume hervorzudringen, gab ich auf und setzte mich wieder ans Lenkrad. Ich schaute nach draußen.

Die Umgebung war gänzlich frei von Leben und Zivilisation. Ich fühlte mich wie in einem postapokalyptischen Endzeitszenario, indem ich der einzige noch übrig gebliebene Mensch auf dem Planeten war. Der Omega-Mann. Mein einziger Gesprächspartner war das weiße Kaninchen der dritten Flasche Jolly Roger, das jedoch nicht mehr zu bieten hatte als Rebellionsparolen und ein dämliches Grinsen. Ich dachte über das Prozium nach. Unfassbar zu was Biochemiker heutzutage in der Lage sind. Ich erinnerte mich, dass ich auf dem Höhepunkt der Ekstase einen Blackout hatte. Ich wusste nicht mehr was passiert ist, aber eines wusste ich, nämlich dass es entsetzliche Grausamkeit war.
Ich hielt den Wagen vor einer riesigen Befestigungsanlage.

Meterhohe Betonmauern blockierten den Weg. Schwer bewaffnete Wachen, die auf den Zinnen patrouillierten und aus der Ferne wie Schachfiguren aussahen. Tonnenweise hochmoderner Boden- und Luftabwehrgeschütze schmückten den Betonwall wie Kugeln einen Weihnachtsbaum. Nicht einmal die mächtigste Luftwaffe könnte diese Grenze überqueren. Das muss mein Ziel sein. Das Paradies. Sieht eher aus wie eine Gefängnisanlage. Ein Scheinwerfer warf einen Lichtkegel auf mich. Eine Alarmanlage begann Lärm zu machen. Eine durch ein Megaphon verstärke Stimme sagte: „Kommen sie mit erhobenen Händen aus dem Fahrzeug.“ Ich tat, was mir befohlen wurde. Das Licht blendete mich, als ich ausstieg. Ein kleiner Lichtkegel in der absoluten Dunkelheit. Ich wartete einige Minuten, doch nichts passierte. Ich hatte erneut das Bedürfnis, mich zu übergeben. Meine Wunde im Bauch brannte höllisch. Der Verband musste gewechselt werden. Ich fühlte, wie ich langsam starkes Fieber bekam. Dann sah ich einige bewaffnete Männer aus dem Tor rennen. Ich muss mich hinlegen. Langsam fiel ich auf die Knie, bevor ich dann ganz auf den Boden fiel. Wie ein seelenloser Stein. „Bitte... helft mir“, waren die letzten Worte die ich aussprechen konnte, bevor ich erneut bewusstlos wurde.


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