Donnerstag, 5. April 2012

1.3 - Höllenspektakel/ Vorhof zur Hölle



1.3 – Höllenspektakel / Vorhof zur Hölle

Ich musste zum Lager, welches wir am anderen Ende der Straße eingerichtet hatten. Durch den Sumpf von Blut und Tod. Ich wollte rennen, so schnell ich konnte, doch mein linkes Bein verbot mir dies. So musste ich das ganze Grauen, was hier geschehen war eine gefühlte Ewigkeit ertragen, bis ich am Ziel ankam, und zum Ende der Straße hinken. Währenddessen klang die Wirkung der Prozium-Z-Pille ab. Ein Höllenzeug. Eine konzentrierte Hassdroge, ein Zerstörungsvitamin, das totale Vernichtungsgelüste verursachte. Das Sperma des Teufels. Der Schmerz meldete sich immer noch nicht, denn mein Körper war immer noch voll mit Adrenalin gepumpt. Wahrscheinlich habe ich noch andere Verletzungen.

Nun hörte ich nichts mehr außer totale Stille. Sind alle außer mir tot? Selbst die Scharfschützen, die an den Ästen im östlichen Wald hängen? Ich wusste es nicht und ich konnte es auch nicht überprüfen. Sie waren über einen Kilometer entfernt. Beim begehen der Straße fühlte ich mich so, als würde ich mich auf dem Vorhof der Hölle bewegen. Der gesamte Weg war gesäumt von Leichen, Waffen, Patronenhülsen und anderen Kriegswerkzeugen wie explodierten Minenköpfen und den Überbleibseln von Granaten. Vereinzelt lagen abgetrennte Gliedmaßen zwischen den Leichen und ab und zu auch Teile von inneren Organen. Umrandet wurde die Szenerie mit dem Schießpulverschwarz der Granaten und Sprengstoffe, sowie den zerstörten Ruinen der ehemaligen Dorfidylle. Der Schnee des Winters brachte dieses Schwarz noch besser zur Geltung, als jede andere Jahreszeit es tun könnte.

Ich watete langsam durch diesen Pfad der Verwüstung, wie jemand, der mit den Armen nach vorne gerichtet die Dunkelheit abtastete. Und dunkel ist es auch hier an diesem Ort. Die Szene hätte eine perfekte Schwarz-Weiß-Fotographie über das menschliche Versagen werden können. Die Straße im Vorgarten der Hölle als Sinnbild für die menschliche Geschichte und die Hölle als gemeinsame Zielgerade für alles und jeden. Das Einzige was in dieser Szenerie noch fehlte war der Teufel selbst, der sich nackt in seinem Vorgarten sonnte und mit einem diabolischen Lachen masturbierte, denn das Schauspiel, das die jämmerlichen Menschen ihm hier dargeboten hatten war der Anlass seiner höchsten Erregung. Und so kann er noch mehr von seinem Wundermittel produzieren, das den ewigen Kreislauf des Krieges in Gang hält.

Menschen mit denen ich lebte. Menschen, die ich liebte, zusammengewürfelt mit Menschen, die ich hasste und die die Menschen, die ich liebte, töteten, waren zu einem riesigen, organischen Mosaik des Todes angeordnet worden. Ich fühlte mich so, als müsse ich gegen die Strömung der Styx anschwimmen. Gegen all die Massen von Blut, den toten Menschen und deren Kindern, die mit offenen Mündern nach oben starrten, wie Fischleichen und deren Fischlaichen in einem vergifteten Bach. Die Straße hatte genau den selben blutroten Anstrich wie dieser Fluss. Tatbestand: sinnloser Kollektivsuizid. Motiv: Unmenschlichkeit. Oder ist es Menschlichkeit?

Wenigstens wirkt das Prozium-Z noch. Es gab mir immer noch das Gefühl, unbesiegbar zu sein. Ohne Deckung und gänzlich schutzlos hinkte ich zum anderen Ende der Straße. Mir war egal, dass eventuell aus der nächsten Ecke ein feindlicher Überlebender hervorspringen konnte, um mit mir das gleiche zu tun, was ich den Leuten von seinem Kaliber angetan hatte. Töricht und tollkühn. Der flüchtige Verstand als Achillesferse. Besessen von dieser Droge waren sämtliche Entscheidungen, die man traf, weder toll noch kühn, sondern eine reine Dummheit und eine Verachtung von menschlicher Moral.

Mitten auf der Straße lag ein alter Mann, mit dem ich oft Schach spielte. Er erzählte mir oft Geschichten. Über seine eigene Vergangenheit und über die Geschichte im Allgemeinen. Seine persönliche Geschichte war nun zu Ende geschrieben. Leider hatte sie ein tragisches Ende. Die untere Hälfte von ihm hing am Dach eines Hauses. Seine Gedärme lagen unterhalb seines Torsos auf dem Steinboden, als hätte jemand den Inhalt einer Plastiktüte, kopfüber an den unteren beiden Ecken schüttelnd, ausgeleert und beide Dinge einfach liegen gelassen. Ein paar Meter weiter lag ein gleichaltriger und guter Freund von mir, mit dem ich oft über Hyperborea phantasierte. Wir malten uns Zukunftsszenarien in der Stadt der Städte aus. Die Szenarien würden für ihn nicht einmal ansatzweise wahr werden. Er hatte mehrere Kugeln im Brustkorb und im Kopf. Sein rechtes Bein fehlte. Die leichten Abzeichnungen seiner jungen Falten, die sich schon bildeten, obwohl er noch nicht einmal zwanzig war, waren vollgeschrieben mit dem gesamten Leid, das das Leben ihm schenkte und der Tod ihm in Form einer Fotographie dieses Augenblickes auf seinem Gesichtsausdruck, anlässlich seines ersten Todestages, hinterließ. Ein Mädchen, in das ich früher ein paar Monate verliebt war, lag tot am Wegesrand. Sie war blutüberströmt und starrte mit ihrem toten rechten Auge in die Leere des Universums. Ihr linkes Auge war nicht mehr existent, da ihre linke Kopfhälfte weggesprengt wurde. Teile ihres Gehirnes lagen neben ihr verteilt am Boden. Ihr schwarzes Haar, das einst so schön glänzte, war nun in einer Mischung aus verdrecktem Schnee und Blut getränkt. Sie hatte nichts mehr von der Schönheit des Lebens. Nur noch die Hässlichkeit des Todes machte sich in ihrer Erscheinung bemerkbar. Sie hatte noch nicht einmal ihre Volljährigkeit erreicht und gleichzeitig war sie schon älter als eine kranke Witwe, die im Sterben lag.

Dann sah ich meinen Bruder. Sein Körper lag zerfetzt und verstümmelt im verdreckten Schnee. Er hatte ein monströses Einschussloch im Brustkorb. Wahrscheinlich von einem Scharfschützengewehr, das ihn sofort tötete. Anschließend musste seine Leiche noch von Explosionen und weiteren Kugeln durch die Luft geschleudert worden sein. Seine rechte Hand war um sein Kreuz geschlungen. Die linke lag mitsamt des dazugehörigen Armes irgendwo im Nirgendwo. Wie durch ein Wunder hatte das Kreuz nichts abgekommen. Gott beschützt wohl nur heilige Objekte, denn bei meinem Bruder sieht die Diagnose ganz anders aus. Sein Körper war vollgestopft mit Kugeln. Als wäre gerade Er eine besondere Bedrohung gewesen. Als hätte Er sieben Leben wie eine Katze gehabt, die man alle nacheinander auslöschen musste. Mein großer Bruder. Der, der mich vor anderen in Schutz genommen hatte, als ich klein war. Der, der mir Mut machte, wenn ich traurig war. Der, mit dem ich lachen konnte und für Momente der Freude verantwortlich war, von denen es in meinem Leben nur eine handvoll gab. Nun konnte er nichts mehr für mich tun. Aber ich kann noch etwas für ihn tun. Ich öffnete seine Hand und starrte auf das Kreuz. Es wurde lediglich von einigen Spuren Schwarzpulver, die von seiner Hand stammten, bedeckt. Ich hing sein Kreuz über meinen Hals und nahm seine Freedom-7, die ein paar Meter neben ihm im Schnee lag, an mich. Seine wertvollsten Besitztümer sollten nicht an so einem Ort zu Grunde gehen.

Die AK-69 ließ ich auf den Boden fallen. Sie war profan und wertlos und konnte von mir aus in diesem Massengrab zu Staub zerfallen. Ich spürte keine Trauer, jedenfalls keine emotionale. Das Prozium-Z blockierte diese Funktion meines Körpers. Trauer war nicht nützlich für den Krieg. Nur das Lachen war nützlich für den Krieg. Das apathische Lachen im Anblick der Agonie. Das Lachen über den Tod und das Lachen über das Leben. Ich ging weiter bis ich das Lager erreicht hatte und warf einen Blick zurück auf die Straße. Ich erinnerte mich daran, dass heute Heiligabend war. „Ist das Leben nicht schön?“, murmelte ich in einem Anfall von nihilistischem Zynismus und verzweifelter Resignation. Dieser Abend war alles, nur nicht heilig. Übrigens, mein Geburtstag ist in wenigen Stunden. Früher hatte ich Geschenke an diesen Tagen bekommen. Zeiten ändern sich. Die Wirkung des Proziums klang weiter ab. Der Schmerz gab seine ersten Signale von sich. Das unterirdische Lager war glücklicherweise unversehrt von den Kampfhandlungen geblieben.

Ich entschloss mich an der Wand neben der Eingangstür kurz zu erholen und ließ mich auf den Boden fallen, um mich für eine Minute auszuruhen. Ich war so erschöpft wie nach einem Marathon. Ein Marathon des Grauens. Barfuß durch die Hölle. Wie nach einem Spießrutenlauf durch ihre neun Kreise. Der Raum war ein großer Keller, der überfüllt war mit Nahrungsmitteln, medizinischem Material und sonstigen Werkzeugen, die man im Überlebenskampf brauchte. Viele Dinge standen chaotisch in der Gegend herum und wirkten eilig abgestellt. Wir brachten vieles zur Lagerung her, in den paar Tagen, in denen wir das seelenlose Dorf besetzten.

Ich betrachte einen Wassertropfen, der von der Decke fiel und am Boden in Millionen von Molekülen zerplatzte, was ein leises Geräusch verursachte, bevor das Wasser im Boden versickerte. Der Untergrund wurde zu seinem Grab, wo er für diverse Organismen neue Nahrung sein würde. Ich hörte einmal, dass der Mensch zu achtzig Prozent aus Wasser bestehen würde. Doch das Schicksal des Menschen gleicht dem des Wassers zu hundert Prozent. Wenn wir sterben, würden unsere organische Überreste unter der Erde zu den Malzeiten von Bakterien und anderen Mikroorganismen werden. Der Tod nährt das Leben. Der ewige Zyklus der Natur. Das narzisstische Inzuchtverhältnis der Mutter des Lebens mit sich selbst. Die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Natürlicher Krieg ist ihr Motor. IN EWIGKEIT... Ich werde schon wieder depressiv. Das letzte, was ich in dieser Situation gebrauchen konnte. Die Wirkung des Proziums war nun fast gänzlich abgeklungen. Mein ganzer Körper brannte vor Schmerz. Ich brauche Pillen, um ihn zu bekämpfen.

Es waren nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze. Viele Nahrungsmittel würde ich nicht mehr benötigen. Ich würde in ein paar Stunden ankommen. Ich packte alles nötige in einen großen Tornister. Munition, Verbandsmaterial, Nahrungsvorräte. Ich lief an einer einer Flasche Jolly Roger vorbei. Dreiunddreißigprozentiger Likör. Ein bitterer Himmel und eine süße Hölle. Schlecht für den Körper, gut für die Seele. Ich nahm sie in die Hand und starrte auf das Markenzeichen auf dem Flaschenbauch. Ein weißer Kaninchenkopf, dessen Augen aus Kreuzen bestanden, grinste mich an. Er streckte die Zunge heraus und das rechte Ohr war nach vorne abgeknickt. Unterhalb des Kopfes formten zwei weiße Sturmgewehre ein Kreuz. Ich kannte dieses Waffenmodell nicht. Das Ganze auf einem schwarzen Hintergrund. Ganz unten stand: „Für alle Rookies - Eine kleine Rebellion des Körpers, um die Rebellion des Geistes anzuheizen.“ Keine Werbung würde mich in dieser Situation mehr ansprechen. Diese Marke war im russischen Reich illegal, Gott weiß warum. Andere Spirituosen waren es nicht. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er mir besser schmeckte, als alle anderen Schnäpse. Ich packte die Flasche ein, um den Schmerz zu betäuben, sowohl den physischen, als auch den psychischen. Nachdem die Schmerzpille nicht sofort wirkte, machte ich spontan ein Drittel der Flasche leer. Ich überlegte nicht lange, ob diese Idee gut war. Ich wollte nur, dass der Schmerz aufhört. Die angebrochene Flasche und zwei weitere verstaute ich im Rucksack.

Dann ging ich zurück zu meinem Vater, erneut durch den Vorhof zur Hölle, nur dieses Mal in die andere Richtung. Plötzlich stolperte ein verletzter KGB-Agent aus einem der verwüsteten Häuser. Sein rechter Arm fehlte. Er schaute mich überrascht an, dann richtete er die Waffe auf mich. Er denkt wohl, alle außer ihm seien tot. Ich war vor Schreck wie gelähmt. Er wollte gerade abdrücken, als ein Schuss aus einem Scharfschützengewehr ihn erledigte. Ich bin wohl doch nicht der einzige aus unseren Reihen, der überlebt hatte. Der Zustand meines Vaters hatte sich nicht verändert. Er brauchte wahrscheinlich trotzdem dringend eine ärztliche Untersuchung. Ich musste schnellstens ein fahrtüchtiges Fahrzeug finden und in ein nächstgelegenes Krankenhaus. Die Wahrscheinlichkeit, eines auf dieser Seite der Grenze zu finden war jedoch gering. Alle Dörfer in der näheren Umgebung waren wie ausgestorben. Entweder wegen den Zwangsumsiedlungen der Grenzgebiete vor Jahrzehnten oder wegen der Massenflucht der übrig gebliebenen Bevölkerung teilweise in die Großstädte des Reiches, jedoch meistens über die Grenze nach Hyperborea. Ich versuchte eines der Fahrzeuge, die wir besaßen zum funktionieren zu bringen, doch vergeblich. Sämtliche Fahrzeuge waren durch die Kampfhandlungen beschädigt worden. Ich und mein Vater würden hier im Nirgendwo festsitzen, nur um dann das Zeitliche zu segnen, wie alle anderen hier auch. AHHH!


 Meine Verletzungen meldeten sich bereits. Mein Herz raste. Ich musste mich hinsetzen, nur für einen winzigen Augenblick. Dann kam mir die Idee. Ein paar hundert Meter weiter musste der KGB seine Fahrzeuge abgestellt haben. Die Götter gaben mir recht. Drei Einsatzwagen, die aus der Entfernung aussahen wie Spielzeuge. Die Transporter würden Identitätsverifizierungen verlangen. Ich hinkte zur nächstgelegenen Leiche und schnitt ihr den Finger mit einem Messer aus dem Lager ab. Den Kopf ebenfalls. Der Tote wird beides nicht mehr brauchen. Ich blickte voller Abscheu in das Gesicht des Toten. Und des Todbringers. Ein Schub von unendlichem Hass raste durch meinen gesamten Körper. Ich wollte diesen Kopf zu Staub verwandeln. Er war jetzt zwar nur noch organischer Müll, doch ich wollte seine materielle Existenz für alle Zeiten zu Nichte machen. Allein die Tatsache, dass ich ihn vielleicht noch brauchen könnte, vereitelte mir diesen Wunsch. Ironischerweise hatten diese „Menschen“ nur tot einen Nutzen. Egal, wenn die Zeit reif ist, werden die Ratten mir meinen Wunsch erfüllen. Den Kopf und das Messer stopfte ich in den Rucksack. Ich packte meinen Vater auf eine Schubkarre aus dem Lager und schob ihn zum Wagen. Der Finger konnte die Tür öffnen. Das Armaturenbrett forderte einen Augenscan. Ich hatte recht. Wissen kann manchmal Gold wert sein.

Ich warf den Kopf auf den Beifahrersitz und legte meinen Vater auf dem Rücksitz ab. Danach überprüfte ich nochmal seinen Gesundheitszustand. Immer noch keine Verschlechterung. Die Freedom-7 und der Rucksack fanden ihren Platz unter dem Rücksitz. Meinen Mitstreiter werde ich auf der anderen Seite der Grenze wieder sehen. Dann stieg ich auf der Fahrerseite ein und schaute zum unerwünschten Gast herüber, beziehungsweise den Teil, den ich von ihm mitgenommen hatte. Sein Blick war vollkommen leer. Wahrscheinlich schon bevor er die Schwelle zu den Toten erreicht hatte. Sein Finger zeigte auf mich. Dieser Mensch war selbst tot eine Provokation. Der Alkohol begann zu wirken. Ich brauch' noch mehr. Und noch 'ne Schmerzpille. Dann fiel mir ein, dass es eigentlich illegal war in betrunkenem Zustand zu fahren. Ich lachte kurz über dieses Gesetz, als mir kurz drauf in Sinn kam, was eine Stunde zuvor passiert war. Das Lachen blieb mir im Halse stecken und schnürte mir fast die Luft ab. Ich wünschte mir fast, dass es ihm gelingen würde. Ich manipulierte das Betriebssystem des Wagens, indem ich mich in den Zentralcomputer einhackte, um ein Aufspüren durch den KGB unmöglich zu machen. Diese Autofahrt sollte die längste Autofahrt meines Lebens werden. Vielleicht eine Fahrt ins Nichts, eine Fahrt in den Tod. Ich bin seit Jahren nicht mehr Auto gefahren.

Nach ein paar Kilometern, die die Durchquerung immer neuer Geisterdörfer und Ruinenstädte nach sich zog, und die Verzweiflung immer stärker wurde, während die Hoffnung immer schwächer wurde, und die Flasche immer leerer wurde, keimte ein Schimmer der Hoffnung in mir auf: mein Vater kam zu Bewusstsein, als wir eine neue Stadt durchquerten. Er hustete und seine Stimme war schwach. „Vater! Vater!“, schrie ich. Vor Freude rannten mir Tränen in die Augen. „Mein Sohn...“ „Ja, wir haben bald die Grenze erreicht!“ Ich fühlte mich so, als sei ich einen Abgrund gestürzt und nach Tagen des Hungers und der Schmerzen, sei mir ein Seil nach unten gereicht worden. „Geh...“, sagte er mit schwacher Stimme, die so klang als wäre sie kurz vor dem zerbrechen. „Ja?! Was ist?! Geh?! Wohin soll ich gehen?!“ Ich wiederholte die Worte, als könnte dieser Vorgang die Sätze meines Vaters schneller aus seinem Rachen ziehen. „Geh.. nach Hyperborea.“ „Ja.. das werde ich! Nein.. das werden wir!!! Wie geht es dir Vater?!“ Keine Antwort. Schock. „Vater? Wie geht es dir?“ Erneut keine Antwort. Verzweiflung. Ich spürte einen Stich in meiner Brust. Den Stich eines vergifteten Dolches, der um neunzig Grad in meinem Herzen gedreht wurde.  Ich trat geistesabwesend auf die Bremse. Herzstillstand. Der Wagen geriet ins stocken und würgte ab. Mein Verstand ebenfalls. Ich stieg aus dem Auto, um den Zustand meines Vaters zu überprüfen. Ich hatte eine Heidenangst vor der Diagnose. Es gab nichts in diesem Moment, was ich weniger gern getan hätte. Konzentrierte Schläge in mein Gesicht mit einer Eisenstange wären mir lieber gewesen. Meine Befürchtungen bewahrheiteten sich. Nichts. Kein Herzschlag. Kein Leben. Kein Grund mehr weiterzuleben. Ich ließ mich auf den schneebedeckten Boden fallen, doch es fühlte sich an, als würde ich in die endlose Leere fallen. Eine bodenlose Leere. Ich setzte mich aufrecht hin, lehnte mich gegen das Auto und starrte den Schnee an. Mein Kopf war für einen Moment vollständig leer. Dann leerte ich die letzten Reste der inzwischen schon zweiten Flasche. Würgereiz! Anschließend übergab ich mich. Das gesamte Elend sollte aus meinem Körper fliehen, sowohl der Schmerz, als auch die Erinnerung an ihn. Ich wollte einen Exorzismus an mir selbst durchführen, der alles schlechte was mir je widerfahren ist, wobei die letzten Stunden davon der Höhepunkt waren, aus mir heraus treiben sollte. Ich wollte meine ganze Seele auskotzen, den Dämon der mein ganzes Leben zerstörte. Als es vorbei war, legte ich mich kerzengerade auf den Boden.

Ich sah alles verschwommen und benebelt, doch den Nachthimmel, zu dem ich aufsah, erkannte ich noch. Das Universum. Dunkelheit, die lediglich von ein paar Lichtpunkten unterbrochen wurde. Wie mein Leben, nur dass die Anzahl der Lichtpunkte geringer ist. Deutlich. Dann fiel mein Blick auf die Flasche. Das Kaninchen grinste mich an. Es lachte mich hämisch aus. Geh mir aus den Augen! Ich warf die Flasche gegen einen nächstgelegenen Baum. Die Scherben splitterten durch die gesamte Gegend. Vor meinem inneren Auge spielte sich diese Szene noch einmal in Zeitlupe ab. Ich sah den Baum an. Es war eine Eiche, die im Sommer majestätisch und glanzvoll erscheinen würde. Jetzt jedoch war sie nackt und hilflos im Angesicht Winters, verstümmelt durch die Kaltherzigkeit der Natur. Genau wie ich. Der Alkohol in meinem Körper ließ sie wie ein verschwommenes und verschobenes Acrylwerk eines unfähigen Künstlers erscheinen. Mein Blick fiel auf das Gebäude vor mir. Ich nahm es nur beschränkt war, doch es kam mir bekannt vor. Ich schaute mich um. Ich war schonmal hier gewesen. Vor langer Zeit. Ich wohnte als Kind schon mal in der Nähe dieser Stadt. Jedoch nicht lange.


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